Aus der Rede des 73jährigen, in den Niederlanden lebenden Zoni Weisz zum »Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus« am 27. Januar 2011 im Bundestag:

Kinder im KZ Auschwitz kurz nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, 1945
(…) Heute gedenken wir der Opfer des nationalsozialistischen Genozids an 500000 Sinti und Roma, wir erinnern an die Opfer der Shoa, des Mordes an sechs Millionen Juden, und wir gedenken all der anderen Opfer des Naziregimes.
Es war ein sinnloser, industriell betriebener Mord an wehrlosen, unschuldigen Menschen, ersonnen von fanatischen Nazis, Verbrechern, die dazu in ihren Rassengesetzen eine Legitimation fanden. Sinti und Roma sind nach Einführung der Nürnberger Rassengesetze im Jahre 1935, ebenso wie die Juden, aus rassischen Gründen verfolgt worden. Juden und »Zigeuner« wurden als »fremdrassig« definiert und all ihrer Rechte beraubt. Sie wurden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen.
(…) Meine Damen und Herren, der Völkermord an den Sinti und Roma ist immer noch ein wie ich es nenne »vergessener Holocaust«. Ein vergessener Holocaust, weil ihm in den Medien nach wie vor wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.
Ich frage mich, warum das so ist. Sind die Opferzahlen ausschlaggebend für die Aufmerksamkeit, die einem zuteil wird, oder ist das Leid eines einzelnen Menschen wichtig? Ich habe in den zurückliegenden Jahren Dutzende von Gedenkreden gehört, in denen die Redner in keiner Weise an das Schicksal der Sinti und Roma erinnert haben. Eine halbe Million Sinti und Roma – Männer, Frauen und Kinder – wurden im Holocaust ausgerottet. Nichts oder fast nichts hat die Gesellschaft daraus gelernt, sonst würde sie heute verantwortungsvoller mit uns umgehen. (…)
(…) Heute erinnern wir an die Schrecknisse der Naziära, doch erlauben Sie mir, etwas zur Stellung von Sinti und Roma, meinem Volk, im heutigen Europa zu sagen. In zahlreichen Ländern sind wir die älteste Minderheitengruppe. Es ist menschenunwürdig, wie Sinti und Roma, insbesondere in vielen osteuropäischen Ländern, wie zum Beispiel Rumänien und Bulgarien, behandelt werden. Der weitaus größte Teil ist chancenlos, hat keine Arbeit, keine Ausbildung und steht ohne ordentliche medizinische Versorgung da.
Die Lebenserwartung dieser Menschen ist wesentlich geringer als die der dort lebenden »normalen« Bürger. Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung sind an der Tagesordnung. In Ungarn ziehen Rechtsextremisten wieder in schwarzer Kluft umher und schikanieren und überfallen Juden, Sinti und Roma. Neonazis haben Roma ermordet, darunter einen fünfjährigen Jungen. Es gibt in Gaststätten und Restaurants wieder Schilder mit der Aufschrift »Für Zigeuner verboten«.
Die Geschichte wiederholt sich. Diese Länder sind vor kurzem erst der Europäischen Gemeinschaft beigetreten, bezeichnen sich selbst als kultiviert. Es ist kein Wunder, daß seit einigen Jahren insbesondere Roma auf der Suche nach einem besseren Leben und nach Zukunft für ihre Kinder nach Westeuropa kommen. In manchen Ländern Westeuropas wie Italien und Frankreich wird man dann wieder diskriminiert, ausgegrenzt und lebt unter menschenunwürdigen Umständen in Ghettos. Man wird wieder des Landes verwiesen und in das Herkunftsland abgeschoben. Diese Menschen sind jedoch Einwohner von Ländern, die der Europäischen Gemeinschaft angehören. (…) Es kann und darf nicht sein, daß ein Volk, das durch die Jahrhunderte hindurch diskriminiert und verfolgt worden ist, heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, immer noch ausgeschlossen und jeder ehrlichen Chance auf eine bessere Zukunft beraubt wird. (…)